Die Landschaft dauert länger als das Individuum

Aktivität: Vorträge und GastvorlesungenKonferenzvorträgeForschung

Anne Gräfe - Sprecher*in

Abstract: „Die Landschaft dauert länger als das Individuum. Inzwischen wartet sie auf das Verschwinden des Menschen, der sie verwüstet ohne Rücksicht auf seine Zukunft als Gattungswesen“, kommentiert der ostdeutsche Dramaturg Heiner Müller sein Triptychon Verkommenes Ufer Medeamaterial Landschaft mit Argonauten von 1983, dessen erste Zeilen lauten: „See bei Strausberg Verkommenes Ufer Spur / Flachstirniger Argonauten / Schilfborsten Totes Geäst / DIESER BAUM WIRD MICH NICHT ÜBERWACHSEN Fischleichen / Glänzen im Schlamm Keksschachteln Kothaufen FROMMS ACT CASINO /Die zerrissenen Monatsbinden Das Blut / Der Weiber von Kolchis“. Heiner Müller malt in einer Art trauma(r)tischer Bildsprache eine Warnung vor der Endzeit als Erinnerung an die Zukunft. Das Stück verkörpert auf besondere Weise Müllers eigene ästhetische-politische Geschichtsphilosophie nach Hegel, Marx und Benjamin. In vielen von Müllers Texten werden Bezüge zu Vergangenheit und Zukunft nur noch als Bruchstücke einer toten Welt erkennbar. Insbesondere durch den zerstückelten Theatertext Verkommenes Ufer Medeamaterial Landschaft mit Argonauten scheinen Fragmente aus Kunst und Literatur hindurch, wie als Hyperlink durch einen Hypertext, wenn Müller sich durch die verschiedenen Heldenmythen, Zeitebenen und geopolitischen wie ökologischen Entwicklungen durcharbeitet und diese infrage stellt. Mit Müller lässt sich somit eine zukünftige Kritik des Subjekts der ökologischen Verwüstung erfahren, die bei der ersten kolonisierenden „Landnahme“ durch die „Flachstirnigen Argonauten“ der Vergangenheit beginnt und an einem verkommenen Ufer der Gegenwart stranden. Zugleich zeigt sich, dass Müllers ästhetische Arbeit darin bestand, aus diesem vermeintlichen Defätismus eines Waste Land ein kollektives Hoffnungssubjekt herauszuschälen, als Opposition zur instrumentellen Vernunft der Aufklärung.
Pierre Charbonnier beschreibt in seiner ökologischen Geschichte der politischen Ideen „Überfluss und Freiheit“ einen „fast völligen Zusammenbruch der Brücken, die uns gewöhnlich mit der Vergangenheit verbinden, da die Erde, die wir bewohnen, ganz und gar nicht mehr dieselbe ist wie früher, aber auch mit der Zukunft, wie wir sie uns bisher vorgestellt haben.“ Seiner Meinung nach besteht die einzige Möglichkeit aus dieser Verlust- und Entmutigungserfahrung darin, ein neuartiges, kritisches kollektives Subjekt entstehen zu lassen sowie „unsere jüngste Geschichte zu erzählen und die Landkarte unserer Bindungen so zu konstruieren, dass die Politik und die Nutzung der Erde nicht mehr heterogen sind.“ Mit Texten des ostdeutschen Dramatikers Heiner Müller will ich in meinem Beitrag nicht nur eine soziologische Kritik durch die Quellen der Literatur betreiben sondern zugleich im Sinne der Ästhetischen Theorie zeigen, wie Kunst und Literatur dieses neuartige kritische kollektive Subjekt, von dem auch Chabonnier schreibt, imaginiert, vorbereitet und erschafft. Etwa, indem Müller eine zukünftige Landschaft mit Argonauten als „Erinnerung an die Zukunft“ aus- und vermisst. Eine Landschaft, aus der ein neues plurales Subjekt hinaus zu einer anderen Zukunft als eben jener weist. Ein Subjekt, dessen Identität sich zwischen Mann und Frau, zwischen Mensch und Nicht-Mensch, in unmittelbarer Verbindung zur Natur entwirft.
17.05.2024

Veranstaltung

Subjekte der ökologischen Verwüstung : Soziologische, psychoanalytische und sozialphilosophische Beiträge zur Aktualisierung der Kritischen Theorie

16.05.2417.05.25

Frankfurt a. M., Hessen, Deutschland

Veranstaltung: Workshop