Die Unheimlichkeit der Heimat in W. G. Sebalds "Schwindel. Gefühle."

Aktivität: Vorträge und GastvorlesungenKonferenzvorträgeForschung

Claudia Albes - Sprecher*in

In Sebalds erstem Prosawerk sind die für sämtliche literarischen Arbeiten des Autors charak- teristischen Reflexionen über Heimat und Heimatlosigkeit so eng mit der Erfahrung des Un- heimlichen verknüpft, dass man Freuds Aufsatz aus dem Jahr 1919 als Subtext vermuten kann. Unter dem Motto Schwindel. Gefühle., das sowohl an eine mit verschwommenem Se- hen einhergehende Gleichgewichtsstörung, als auch an vorgetäuschte Emotionen denken lässt, sind vier, durch zahlreiche Querverweise miteinander verbundene Erzählungen versammelt. Zwei von ihnen sind biographische Skizzen über Stendhal und Kafka, zwei weitere autobio- graphische Reiseberichte des dem Autor Sebald angenäherten Ich-Erzählers. Von England über Österreich nach Norditalien reisend, figuriert dieser Erzähler als ein an den seelischen Quellen literarischer Kreativität interessierter Spurensucher, dessen Identität nicht immer einwandfrei von der seiner literarischen ‚Vorgänger’ zu unterscheiden ist. Immer mehr uner- klärliche Koinzidenzen entdeckend, wird er zunehmend von Verfolgungsängsten geplagt. Nach dem panischen Abbruch der ersten Reise (1980) will er sieben Jahre später qua Wieder- holung seine „schemenhaften Erinnerungen an die damalige gefahrvolle Zeit […] überprüfen“ (SG, 97) und kehrt zudem nach über dreißig Jahren in sein Heimatdorf zurück, das für ihn
„weiter […] in der Fremde [liegt], als jeder andere denkbare Ort“ (SG, 211).
Leitmotivisch durchzieht Kafkas Parabel Der Jäger Gracchus (1916/17) die vier Erzählun- gen. Die Geschichte des untoten Jägers, der heimatlos über die Weltmeere treibt, verbindet den Befund der existentiellen Heimatlosigkeit mit der Frage nach einer diesem Zustand zugrundeliegenden Schuld. In Schwindel. Gefühle. wird diese Geschichte in immer neuen Varianten erzählt und erzeugt durch ihre mehrfache unvermutete Wiederkehr ein Gefühl des Unheimlichen. Ob Kafkas Geschichte die gegen Ende referierten Kindheitserinnerungen des Erzählers, in denen zwei angstbesetzte Jägerfiguren vorkommen, mythisch präfiguriert oder ob in diesen Kindheitserinnerungen rückwirkend die Ursache für die Obsessionen des Erzäh- lers zu suchen ist, bleibt unentscheidbar.
20.09.201722.09.2017

Veranstaltung

"Unheimliche Heimaträume": Fachtagung zu Literarische Repräsentationen von Heimat in der deutschsprachigen Literatur seit 1918

20.09.1722.09.17

Vitoria-Gasteiz, Spanien

Veranstaltung: Sonstiges