Arbeitszeitregime im Lock-in? Eine pfadtheoretische Untersuchung der Persistenz überlanger Arbeitszeiten in Beratungsunternehmen

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Diese Dissertation untersucht die Gründe für die Persistenz von Regimes überlanger Arbeitszeiten und konstanter Verfügbarkeit in professionellen Dienstleistungsunternehmen. Viele dieser Unternehmen haben in den letzten Jahren zahlreiche Work-Life-Balance- und Arbeitsflexibilitätsinitiativen eingeleitet, um ihren Mitarbeitern eine alternative Arbeitszeitgestaltung zu ermöglichen und damit ihre Attraktivität im Wettbewerb um exzellente Arbeitskräfte zu sichern. Allerdings zeigen empirische Untersuchungen deutlich, dass solche Maßnahmen auffallend häufig scheitern oder paradoxerweise die etablierten Muster sogar verstärken. Ausgangspunkt der Arbeit ist eben diese empirische Beobachtung, dass viele Organisationen – aus noch nicht hinreichend verstandenen Gründen – trotz zunehmender auf dieses Zeitregime zurückzuführender Ineffizienzen und zahlreicher darauf gerichteter Wandelinitiativen weitgehend am etablierten Zeitmodell festhalten. Warum bleiben die zum Problem gewordenen Arbeitszeitregimes trotz zahlreicher Änderungsversuche so stabil? Im Laufe der Arbeit wird die These aufgestellt und erprobt, dass es sich bei diesem gegenüber intendierten Reformversuchen scheinbar „immunen“ Zeitregime möglicherweise um einen besonderen Fall organisationaler Persistenz – nämlich kontrafaktischer Stabilität (kurz: Ultrastabilität) – handelt, deren Erklärung sich nicht in einer bereits mehrfach gelieferten Beschreibung der Existenz der problematischen Zeitmuster erschöpft, sondern einer Offenlegung der zugrundeliegenden stabilisierenden Prozesse und Mechanismen, welche die wiederholten Änderungsversuche zurückweisen, bedarf. Diese Dissertation setzt sich das Ziel, eine solche Erklärung für dieses rätselhafte Phänomen zu liefern. Dazu wird zunächst ein neuartiger, an die Theorie organisationaler Pfadabhängigkeit angelehnter prozessualer Analyserahmen zur Erforschung ultrastabiler Zeitregimes erarbeitet. Dieser wird anschließend mittels einer longitudinalen, auf komplementären Datenquellen (Archivmaterialen, Interviews und teilnehmenden Beobachtungen) beruhenden Einzelfallstudie des ultrastabilen Zeitregimes einer großen, international tätigen Unternehmensberatungsgesellschaft zur Exploration und Erklärung der Gründe für das Scheitern der von dieser Organisation bisher initiierten Reformversuche angewandt. Diese empirische Untersuchung liefert drei wesentliche Ergebnisse. Erstens kann die Genese des Regimes überlanger Arbeitszeiten beim untersuchten Unternehmen auf die Emergenz einer spezifischen Leistungsmarktstrategie zurückgeführt werden, nach der die Vor-Ort-Präsenz von Beratern als Verkaufsargument gegenüber Kunden eingesetzt worden ist. Zweitens können zwei selbstverstärkende Mechanismen identifiziert werden, welche zur Ausweitung und zur Verfestigung dieser neuen Strategie – und damit einhergehend zur Verschiebung der organisationalen Arbeitszeitmuster hin zu einer verstärkten Verfügbarkeit von Beratern in den Abendstunden – geführt haben. Drittens zeigt die Analyse, dass sich die untersuchte Firma durch das Befolgen der Strategie in einen zunehmend ineffizienten Lock-in hineinmanövriert hat. Zusammengenommen deuten diese Ergebnisse darauf hin, dass es sich bei der Persistenz überlanger Arbeitszeiten im untersuchten Unternehmen um einen Fall organisationaler Pfadabhängigkeit handelt. Diese Forschungsergebnisse haben wichtige Implikationen für die Forschung über Regimes überlanger Arbeitszeiten in professionellen Dienstleistungsunternehmen, indem sie (i) einen neuen in der bisherigen Work-Life-Forschung selten berücksichtigten Faktor – den Zusammenhang zwischen Zeitregime und Unternehmensstrategie – hervorheben, (ii) ausgehend von der longitudinalen Sicht auf die Ko-Evolution von Zeitregime, Organisation und Umwelt zur Entwicklung einer nuancierten Perspektive auf organisationale Kontrolle beitragen und (iii) die Bedeutung dezidiert organisationaler Mechanismen und Prozesse für die Perpetuierung von Regimes überlanger Arbeitszeiten unterstreichen. Darüber hinaus tragen die Ergebnisse dieser Untersuchung auch zu einer Weiterentwicklung der Theorie organisationaler Pfadabhängigkeit als Prozesstheorie organisationaler Persistenz bei, indem sie einerseits zu einer differenzierteren Betrachtung des Konzepts selbstverstärkender Mechanismen und andererseits zu einer Dynamisierung des Konzepts organisationaler Lock-ins anregen.
Titel in Übersetzung A locked-in working time regime? : A path-theoretical investigation of the persistence of extra-long working hours in a management consulting firm
OriginalspracheDeutsch
ErscheinungsortBerlin
Anzahl der Seiten281
DOIs
PublikationsstatusErschienen - 27.04.2016
Extern publiziertJa

Bibliographische Notiz

Dissertation, Freie Universität Berlin, 2015